Wem gehört die Stadt? – Aktionistischer Stadtspaziergang (22.10.16)

Am 22. Oktober 2016 fanden wir uns mal wieder zusammen, um cimg2468gemeinsam einen kleinen Spaziergang durch die Stadt zu wagen. Diesen begingen wir dieses Mal im Rahmen der Alternativen Orientierungstage (http://alota.co.vu/) an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Im Vorfeld brannte uns natürlich wie immer die Frage „Wem gehört die Stadt“ unter den Nägeln. Wir beschlossen die Antwort darauf aktionistisch zu geben, indem wir die Stadt und die fragwürdigen Entwicklungen in ihr bunt und laut markierten.

So setzten wir uns – nach einer kleinen Einstimmung auf dem Campus – zügig mit etwa dreißig Menschen in Bewegung. Unser erstes Ziel war die sich zu diesem Zeitpunkt in Sanierung befindende Wagnergasse. Hier begegnete uns ein erstes Indiz, wem denn nun die Stadt gehöre. Klein aber fein und noch umhüllt, schickte sich Carl Zeiß an, die Wagnergasse unter seine Fittiche zu nehmen, wie er es zu Lebzeiten als stolzer Patriarchat gewohnt war. Damals wachte er seine Arbeiter*innen mit Zuckerbrot und Peitsche. Für die gesetzlich nicht vo2016-10-15-16-23-02-verpixeltrgeschriebene Einführung sozialer Mindeststandards wird er seitens städtischer Offizieller noch heute gefeiert und gerne als Aushängeschild der immerwährenden Fortschrittlichkeit Jenas herangezogen. Dass diese Fortschritte über Jahre hinweg von Arbeiter*innen selbst in Streiks, Sabotage, Boykotts usw. unter lebensgefährlichen Bedingungen und gegen Gesetzgebung und Kapitalinteressen erkämpft wurden und eben nicht das Produkt eines gönnerhaften und ethisch einwandfreien Kapitalisten wie Zeiß waren, bleibt seit jeher unbeachtet. Wenn es die Stadt also überhaupt als notwendig erachtet, irgendjemanden in der pulsierenden Wagnergasse zu gedenken, dann doch bitte den unbekannten Kämpfer*innen (Arbeiter*innen, „Hausfrauen“ und „Arbeitslosen“) des frühindustriellen Kapitalismus!

Das würde allerdings wenig in jenes Szenario passen, dass sich auch ohne Zeißgedenken gerade in der Wagnergasse abspielt. In Imagekampagnen (insbesondere für Neu-Studierende) erfüllte diese bisher stets den Zweck das junge, hippe und kreative Jena in den Fokus zu rücken. Das, was seitens der Stadt als angesagt angesehen wird, sei an dieser Stelle mal dahin gestellt und bedürfte womöglich eines eigenen Spaziergangs. Bezüglich der Frage, wem denn die Stadt gehöre, fällt die Antwort jedenfalls ebenso dürftig wie offensichtlich aus: 2016-10-15-16-25-09-verpixeltjenen, die es sich leisten können in schicken Bars und Kneipen ihre Cocktails zu schlürfen; jenen, die diese Art des Konsums brauchen, um sich öffentlich darzustellen und die Möglichkeiten dazu haben; jenen, die nicht darauf angewiesen sind, mittags, abends oder nachts für wenig Geld zu malochen; jenen, für die es finanziell stemmbar ist, Kinderbetreuung zu bezahlen; jenen, die nicht damit rechnen müssen auf dem Nachhauseweg auf Grund ihre zugeschriebenen Hautfarbe von den Bullen schikaniert zu werden… Die Liste ließe sich schier endlos weiterführen, so ausschließend ist die repräsentative „Kneipenmeile“ Jenas und gehört deswegen markiert!

Nun schon mit etwas Wut im Bauch zogen wir weiter in die Carl-Zeiss-Straße. Hier entdeckten wir nach optimaler Inwertsetzung des Areals um die Wagnergasse plötzlich das genaue Gegenteil. Jahrelanger Leerstand beglückte unsere lachenden und zugleich weinenden Augen. Ermuntert haben uns die Träume, was wir mit den leeren und zugegeben auch durchaus sehr heruntergekommenen Gebäuden alles anstellen können. Ein Autonomes Zentrum war im Gespräch, in dem sich all die emanzipatorisch politisch aktiven dieser Stadt zusammenfinden können, um ihre Kämpfe zu bündeln. Oder doch lieber ein Soziales Zentrum, das als Anlaufstelle und Begegnungsraum neue Verknüpfungen und Zugänge zwischen Menschen dieser Stadt schaffen könnte? Vielleicht aber auch ein Stadtteilzentrum, in dem sich Nachbar*innen beginnen unabhängig von politischen Vertreter*innen zu organisieren? Am Besten natürlich eine Mischung aus allem! Schließlich steht ja die gesamte Häuserzeile leer. Daraufhin berichteten schon etwas länger in Jena Verweilende von den Versuchen, diese Häuser ihren sinnlosen (Leerstand) und reaktionären (Spekulation mit Leerstand) Zwecken z2016-10-15-16-44-29-verpixeltu entziehen und sie der eigenmächtigen Nutzung (Besetzung der Nr. 11 im Juli 2014) zu übergeben. Der immer noch vorhandene Leerstand in der Carl-Zeiss-Straße ist aber kein Symbol des Scheiterns von Raumaneignung, sondern einer fehlgeleiteten Stadtentwicklung, die es Immobilienakteuren wie der Ernst-Abbe-Stiftung erlaubt, über Jahre hinweg Mieter*in für Mieter*in zu kündigen, anstatt als Stiftung ihrer Verantwortung nachzukommen sozialen Wohnungsbau zu schaffen.

 

Nachdem dieser Leerstand markiert wurde, ging es zum Herzen Jenas: dem Eichplatz. Hier lauschten wir zunächst der vielfältigen Geschichte und Ge2016-10-15-17-02-37-verpixeltsichtern dieses Platzes, die er im Laufe seines Bestehens annahm. Gerade grotesk wirkt dem gegenüber seine derzeitige Nutzung als schnöder und grauer Parkplatz. Symbolisch vergegenständlicht sich hier der Unwille der politischen Eliten dieser Stadt eine gesellschaftlich sinnvolle Nutzung herbeizuführen. Schon einmal durch den Widerstand einer „BürgerInbewegung“ in ihrem Vorhaben gescheitert, der Image-City ihr für Kapitalinteressen aussagekräftiges Zentrum zu geben, streben Schröter (Oberbürgermeister), Peisker (Stadtentwicklungsdezernent) und Co. nun nach der Vollendung ihrer unrühmlichen politischen Karrieren. Mittlerweile befindet sich die Planung auf der Zielgeraden. Tatsächlich durften – so erfahren wir – (ausgewählte) „BürgerInnen“ dieser Stadt an der Planung des Geländes mitwirken. Ihr Einflussgebiet umfasste allerdings, begleitet von einer nahezu zynischen Selbstbeweihräucherung der städtischen Eliten für ihre wieder mal sehr „fortschrittlichen Bürgerbeteiligungsverfahren“, lediglich Fragen ästhetischer Natur. Anstelle von einer wirklich gleichberechtigten und repräsentativen Gestaltung dessen, was 2016-10-15-17-04-01-verpixeltin die architektonischen „Meisterwerke“ denn nun hinein soll, wofür sie also letztlich genutzt werden, streiten sich Frau Müller und Herr Schmidt um „Gelänke“ oder „Freie Formen“. Nur um am Ende doch wieder von der Expertise des extravaganten Architekturbüros „Speer“ aus Frankfurt am Main übergangen zu werden. Dieses Schauspiel ist lächerlich und dennoch dramatisch zugleich für alle, die sich diese Stadt (bald) nicht mehr leisten können und gehört deswegen markiert!

Daraufhin setzte sich unser Zug erneut in Bewegung. Dieses Mal zu den Gemäuern von des ehemals kommunalen und mittlerweile (teil)privatisieren Wohnungsbau- und verwaltungsunternehmen „JenaWohnen GmbH“. Nachdem angesichts dieser weiteren städtischen Misere das Mikrofon versagte, das bisher auch Menschen weit über die Teilnehmenden hinaus, über die Missstände in dieser Stadt informierte, schlugen wir dennoch keineswegs leisere Töne an. Dies wäre dem Tun von JenaWohnen auch wirklich nicht angemessen. Auch wenn sich die Geschäftsleitung medial gerne mit dem Umstand schmückt, dass JenaWohnen den mit Abstand größten Bestand an Sozialwohnungen in Jena verwaltet (das Geld, was das Unternehmen dafür erhält ist dadurch ja auch nicht weniger wert), verschweigt es im gleichen Atemzug, dass diese Tendenz rückläufig ist. Dies mag bei genauerem Hinsehen auch nicht überraschen, schließlich investiert JenaWohnen die kassierten Miete2016-10-15-17-52-37n nicht erneut in sozialen Wohnungsbau, sondern gönnt sich seit Jahren lieber ein Prestigebau nach dem Nächsten, welche oft nicht einmal den Nutzen Wohnraum erfüllen. Verantwortlich möchte sich das Unternehmen dafür aber nicht fühlen und schiebt den Zonk gerne weiter an „die Politik“, die nicht die nötigen Anreize zur Investition schaffen würde. „Die Politik“ wiederum möchte davon nichts wissen und glaubt erkannt zu haben, dass die Verwaltung, sowie die komplizierte Gesetzgebung am Sozialwohnungsmangel Schuld sei. In der Verwaltung schließlich zeigt man sich verwundert, haben doch „wissenschaftliche“ Gutachten ergeben, dass in Jena überhaupt keine Sozialwohnungen nachgefragt würden. In Teilen mag dies sogar stimmen, denn während sich alle jene, die sich öffentlich allzu gern als verantwortungsbewusste Herrscher*innen inszenieren, gegenseitig des Versagens bezichtigen, mussten schon zahlreiche Menschen Jena gegen ihren Willen den Rücken kehren, sei es weil sie keine angemessene und passende Wohnung gefunden haben oder sei es weil sie sich diese nicht leisten konnten. Ohne weitere Worte gehört dieses Trauerspiel markiert!

Zuletzt versammelten wir uns auf dem Inselplatz, wo sich einige Kreise schließen. Wir befinden uns auf einem Parkplatz, d2016-10-15-17-51-53-verpixelter gemeinsam mit alteingesessenen Bewohner*innen einzelner Häuser am Rande des Platzes, einem überdimensionalen Groß- und Imagebau weichen muss. Neben Wohnungen mit immer hin noch bezahlbaren Mieten verschwinden hier selbstverwaltete Räume eines Hausprojektes. Entstehen soll dafür ein neuer Campus, der einerseits die Naturwissenschaften als potentiell Innovationsvorteile verschaffend protegiert (schließlich lohnt sich die Forschung an aller technischen Schickschnak auch in Jena, sind doch beliebte Abnehmer*innen wie die Bundeswehr oder patriarchale Staaten wie die Türkei oder Saudi-Arabien immer gern gesehen) und andererseits aus Brachen blühende Landschaften macht, die der „Lichtstadt“ im regionalen Standortwettbewerb die entscheidende Ausstrahlungskraft liefern soll.

Wo allerdings in grauen Betonblöcken und toten Glasfassaden das blühende Moment abseits von betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Kalkülen sein soll, bleibt uns als Spaziergänger*innen schleiherhaft. Wir sehen hingegen eine Stadt, die weder jetzt noch zukünftig uns gehört. Grund genug hin und wieder (gemeinsam) offenen Auges durch die Stadt zu ziehen, um Missstände zu markieren und die Risse und Lücken zu deren Beseitigung zu entdecken oder halt zu gleich selbst zu schaffen!